Natallia Vasillevich. Wo ist dein bruder? Was hast du getan?
Fast ein Jahrzehnt ist seit der letzten ÖRK-Vollversammlung in Busan vergangen. Die orthodoxe Kirche hat jedoch keinen Grund zum Feiern, da sie in einer tiefen Krise steckt. Seit Jahrhunderten erwartet, seit Jahrzehnten aktiv vorbereitet, hätte das Heilige und Große Konzil der Orthodoxen Kirche, das 2016 schließlich stattfand, ein neues pfingstliches Ereignis sein können, jedoch scherten vier der Schwesterkirchen im allerletzten Moment aus, opferten die panorthodoxe Einheit und das gemeinsame Zeugnis und ließen die Orthodoxie vor der ganzen Welt lächerlich aussehen; gleichzeitig will man aber vermeiden, „unsere internen Probleme vor der protestantischen Welt zu diskutieren“, wie es Metropolit Hilarion von Wolokolamsk auf der orthodoxen Vor-Versammlung in Paralimni formulierte.
Allerdings sind die internen orthodoxen Probleme so deutlich sichtbar, dass von einem gemeinsamen Zeugnis gar nicht mehr gesprochen werden kann: Das gesamte Gefüge der orthodoxen Kirche wird umgestaltet, da neue autokephale Kirchen gegründet werden und neue Kirchen, die Autokephalie anstreben, ob sie anerkannt sind oder nicht, die einseitige Aufkündigung der Kommuniongemeinschaft, das die Arbeit der Bischofskonferenzen in der Diaspora ernsthaft beschädigt, die Invasion der russischen Kirche im afrikanischen Kontinent, wo die Kirche verwundbar ist, schafft Verwirrung und Versuchungen und erschüttert die Stabilität der dortigen Pfarreien und Diözesen; und schließlich die schockierende Haltung der Führung der Russisch-Orthodoxen Kirche zum Blutvergießen in der Ukraine, als der Patriarch im Grunde der russische Militärinvasion seinen „Segen“ erteilte.
Während die Vollversammlung des Ökumenischen Rates der Kirchen näher rückt, befindet sich die orthodoxe Kirche in einem skandalösen Zustand, der die Glaubwürdigkeit des orthodoxen Beitrags zum gemeinsamen christlichen Zeugnis von der Liebe Christi in der leidenden Welt stark untergräbt. Das Opfer, das wir dem Herrn bringen werden, kann keine Gunst finden vor Seinen Augen (Gen 4:5), da einer der Brüder in unserer orthodoxen Familie sich als Kain erwiesen hat.
Die Sünde Kains
Metropolit Onufry von Kyiw von der Ukrainisch-Orthodoxen Kirche war der erste, welcher der unverschuldeten russischen Invasion in der Ukraine, die Tausende von Toten, Millionen von Flüchtlingen, dem Erdboden gleichgemachte Städte, Folterungen, Vergewaltigungen und Massaker zur Folge hatte, diesen Namen gab, denn es ist das Blut, das „aus der Erde schreit“ (Gen 4,10) in Butscha, Irpin, Mariupol, Cherson und Charkiw.
Es ist der Schrei, der bei der Inter-Orthodoxen Vor-Versammlung, die in Paralimi auf Zypern im Mai stattfand, kaum gehört wurde. Erzbischof Leo von Finnland drückte die Reaktion vieler Gläubigen aus, als er sagte, dass er enttäuscht sei von den Reaktionen der orthodoxen lokalen Kirchen, welche „die Wahrheit bezeugen und die Dinge beim Namen nennen sollen, nicht nur in theologischen, sondern auch in sozialen Fragen“.
Warum wurde die Stimme der ukrainischen Christen nicht gehört und warum vermieden es ihre Brüder und Schwestern, um es mit den Worten von Erzbischof Leo zu sagen, „direkter zu sprechen und zu handeln“?
Die Stimme der ukrainischen Christen
Dies geschah erstens, weil die Ukraine, obwohl sie eines der größten europäischen Länder ist, keine Kirche hat, die Mitglied im Ökumenischen Rat der Kirchen ist. So geht es auch Belarus und als orthodoxe Theologin aus Belarus weiß ich aus eigener Erfahrung, wie sehr das Engagement in der ökumenischen Bewegung und die Bedeutung der Ökumenischen Bewegung auf nationaler Ebene durch diese Abwesenheit geschwächt wird, wie dies zu einer Marginalisierung von entsprechenden Stimmen führt, die so in den Schatten geraten. In meinem eigenen Fall erlebte ich allerdings auch die positive Rolle, welche die Unterstützung durch ökumenische Jugendorganisationen und andere Kirchen dabei spielen kann, diese Stimmen zu stärken und das Zeugnis zu teilen. Eine solche Unterstützung wird jetzt von unseren Schwestern und Brüdern in der Ukraine mehr als je benötigt, und es ist unsere besondere Verantwortung für uns als Orthodoxe, die Stimmen der ukrainischen Kirchen mit allen Mitteln in die ökumenische Arena zu bringen und die Präsenz der ukrainischen Christinnen und Christen durch spezielle Delegationen, Kulturprogramme und Ausstellungen, und auch durch unsere eigene Teilnahme an der ÖRK-Vollversammlung zu unterstützen. Wir müssen sicherstellen, dass wir als Boten ihrer Beschwerden und Hoffnungen handeln können und zu Stimmen der Stimmlosen werden.
Die Stimme der Russischen Kirche
Zweitens hat sich einfach der Agressor die Stimme des Blutes, das schreit, angeeignet. Patriarch Kyrill von Moskau hat uneingeschränkt „gesegnet“, was in Russland „militärische Spezialoperation“ genannt wird und was in Wirklichkeit eine ungerechtfertigte Aggression Russlands gegen den unabhängigen Staat Ukraine ist, und die Zerstörung der heiligen Gabe des menschlichen Lebens, Erniedrigung und Gewalt mit sich bringt. In Moskau wurde entschieden, wer die Ukraine auf der ÖRK-Vollversammlung vertreten soll, und man war darauf bedacht, sicherzustellen, dass keine anderslautende Stimme aus der Ukraine zu hören sein soll. Nach Kriegsbeginn hat die Heilige Synode der Russisch-Orthodoxen Kirche zwei zunächst nominierte Vertreter der Ukrainisch-Orthodoxen Kirche, die bereit waren, im Namen des ukrainischen Volkes zu sprechen, nämlich die Priester Mykola Danilevich und Vasyl Prits, aus ihrer Delegation bei der ÖRK-Vollversammlung ausgeschlossen. Die Stimme der russischen Kirche selbst wird monopolisiert von einer Gruppe von Menschen, die wie zu Zeiten des Kalten Krieges die ökumenische Arena nutzt, um nicht für die authentische christliche Position zu werben, sondern eigennützige und politische Interessen zu vertreten. Diese Tatsache verlangt wiederum von uns orthodoxen Christen, insbesondere von denen, die in einer freien und demokratischen Welt leben, diese christlichen Stimmen der leidenden und Zeugnis ablegenden Christen, sowie die aus der eigenen Erfahrung entstandenen unabhängigen theologischen Berichte von der Basis zu fördern.
Moralisch-ethische Urteilsbildung und die Pflicht, Rechenschaft abzulegen
Drittens erinnert uns die weltweite Kampagne mit der Forderung nach Ausschluss der Russisch-Orthodoxen Kirche aus dem ÖRK an die Pflicht der Kirchen und ihrer kirchenleitenden Personen, für ihre Worte und Taten, für ihre Einstellungen und ihr Handeln Rechenschaft abzulegen. Erzbischof Rowan Williams formuliert es so: „Wenn eine Kirche aktiv einen Angriffskrieg unterstützt, und es unterlässt, offenkundige Verstöße jeglicher Art gegen ethisches Verhalten in Kriegszeiten zu verurteilen, dann haben andere Kirchen das Recht, die Frage danach zu stellen.“ Und ich meine, sie haben nicht nur das Recht, sondern auch die Pflicht dazu. Was können wir etwa zur Diskussion über das Dokument über die moralisch-ethische Urteilsbildung beitragen, wenn wir es selbst in solch offensichtlichen und klaren Fällen, in denen kein komplizierter Unterscheidungsprozess notwendig ist, um zwischen Schwarz und Weiß, zwischen Gut und Böse zu unterscheiden, nicht schaffen, eindeutig und direkt auf die Situation zu reagieren?.
Die Liebe zu Christus ist anspruchsvoll und herausfordernd
Meiner Meinung nach wäre ein Ausschluss der Russisch-Orthodoxen Kirche aus dem Ökumenischen Rat der Kirchen keine gute Idee. Trotz Repressionen und Drohungen gibt es viele lautstarke Stimmen von russisch-orthodoxen Geistlichen, die den Krieg verurteilen. Es gibt Beispiele für mutige Briefe von Hunderten orthodoxer Priester und indivviduelle Äußerungen von Priestern, Theologen und Gläubigen, die in Zeugnis, Verkündigung und Dienst wie die Bekennende Kirche handeln. In Belarus wurde der orthodoxe Priester Mikhail Marugo sogar zu 13 Tagen Haft verurteilt, weil er Blumen als Symbol des Friedens in seinen Händen hielt. Diese Martyria muss sichtbar sein, denn das ist die authentische christliche Stimme.
Der Dialog sollte fortgesetzt werden, aber das Ziel des Dialogs besteht nicht darin, jemanden sich wohlfühlen zu lassen oder Kontroversen zu vermeiden. Die Liebe Christi ist fordernd und konfrontierend und nicht nur tröstend. Es ist wichtig, Fragen zu stellen und Rechenschaft zu fordern nach dem Beispiel, das Gott selbst gibt, wenn er Kain nach dem Blutvergießen fragt: „Wo ist dein Bruder, was hast du getan?“(Gen 4,9-10). Wenn die Russisch-Orthodoxe Kirche im ÖRK bleiben will, muss sie mit dieser Frage und den entsprechenden Forderungen konfrontiert werden. Und wir Orthodoxe müssen die Ersten sein, die die Frage aufwerfen und immer wieder neu stellen: „Wo ist dein Bruder?“
Natallia Vasilevich, orthodoxe Theologin und Politikwissenschaftlerin aus Belarus, schreibt derzeit ihre Dissertation über den Präkonziliaren Prozess des Heiligen und Großen Konzils der Orthodoxen Kirche an der Universität Bonn. Sie moderiert die „Christliche Vision“, eine ökumenische Gruppe, die Priester, Theologen und Laienaktivisten der belarussischen Kirchen vereint und ein gemeinsames christliches Zeugnis im Kontext der anhaltenden politischen Krise in Belarus ablegen möchte. Sie ist Delegierte des Ökumenischen Patriarchats bei der Vollversammlung des Ökumenischen Rates der Kirchen.