Kirchen und Protest in Belarus – Aktuelle Umfrageergebnisse
РегинаЭльснер
Докторесса теологии, научная сотрудница Центра восточноевропейских и международных исследований (ZOiS), Берлин, профессориня восточных церковных и экуменических исследований Мюнстерского Университета.
Seit den Präsidentschaftswahlen in Belarus am 9. August 2020 brechen der Protest gegen die Wahlfälschungen und die staatlichen Repressionen gegen Demonstrierende nicht mehr ab. Auch die beiden größten Kirchen des Landes – die Belarusische Orthodoxe Kirche (BOK) und die römisch-katholische Kirche – sind von den tiefgreifenden Transformationsprozessen betroffen.
Im Dezember 2020 hat das Zentrum für Osteuropa- und internationale Studien (ZOiS) eine umfassende Umfrage unter Einwohner*innen von Städten (2000 Personen) im Alter von 16 bis 64 Jahren als Internetumfrage durchgeführt. Neben zahlreichen Fragen zur gesellschaftlichen und politischen Lage, Protestteilnahme und Zukunftsperspektiven wurden auch verschiedene Aspekte der religiösen Identität erfragt. Diese ermöglichen ein besseres Verständnis der religiösen Komponente des Protests und der gesellschaftlichen Haltung gläubiger Menschen, auch wenn aufgrund der Konzentration auf die städtische Bevölkerung und den nicht erfassten älteren Bevölkerungsgruppen Vorbehalte bleiben. Darüber hinaus müssen die protestantischen Kirchen aufgrund der verschwindend kleinen Anzahl in der Umfrage hier außer Acht gelassen werden, obwohl sie eine durchaus beachtenswerte Rolle im gesellschaftlichen Leben spielen.
Zugehörigkeit und Alltagsreligiosität
Die Verteilung der religiösen Zugehörigkeit entspricht weitgehend den Daten früherer Umfragen: 72 Prozent der Befragten bezeichnen sich selbst als orthodox, ca. 6 Prozent als katholisch, kleinere Minderheiten als protestantisch, jüdisch und muslimisch. 20 Prozent der Befragten geben an, nicht religiös zu sein. Wie in vielen anderen post-sowjetischen Ländern steht diese hohe Identifikation mit einer Kirche im Gegensatz zur gelebten Religiosität. Nur 3 Prozent der Orthodoxen besuchen wöchentlich die Kirche, 6 Prozent einmal im Monat, 44 Prozent mehrmals im Jahr und 47 Prozent nie. Zuhause beten 25 Prozent der Orthodoxen wöchentlich, aber auch hier 46 Prozent nie und 20 Prozent mehrmals im Jahr. 78 Prozent der befragten orthodoxen Gläubigen geben an, in den vergangenen zwölf Monaten weder Mitglied noch Unterstützer einer Kirche oder religiösen Organisation gewesen zu sein.
Auch die Relevanz der Religion im täglichen Leben ist für die orthodoxen Befragten eher gering. Von den sich als orthodox identifizierenden Menschen empfinden nur 25 Prozent die Meinung kirchlicher Führungspersonen (Bischöfe und Priester) als wichtig oder einigermaßen wichtig in gesellschaftlichen Krisen, 23 Prozent in persönlichen Fragen. Für knapp 60 Prozent hat hingegen die Meinung der Kirchenführer keine Relevanz in diesen Fragen.
Die Umfrageergebnisse bestätigen die Auffassung, dass die Religiosität unter den katholischen Gläubigen höher ist. Sowohl die Relevanz der Meinung von Kirchenführern für das persönliche Leben und in Zeiten sozialer Krisen als auch das häusliche und kirchliche Gebet erreichen jeweils höhere Werte als bei den orthodoxen Befragten. Auch die Bindung an eine Gemeinde (Mitglied oder Unterstützung in den vergangenen zwölf Monaten) ist leicht höher.
Institutionelles Vertrauen
Insgesamt sind die Werte für persönliches Vertrauen in Belarus niedrig, und gläubige Menschen sind hier keine Ausnahme: Knapp 60 Prozent der Befragten aus beiden Konfessionen geben an, Menschen bei der ersten Begegnung nie oder selten zu vertrauen. Diese Zahlen sind besonders für das Gemeinschaftsgefühl relevant, das eine Mobilisierung für gemeinsame Interessen wahrscheinlicher bzw. in diesem Fall unwahrscheinlicher macht.
Für Aufmerksamkeit sorgt das große Vertrauen in die Orthodoxe Kirche unter den Befragten im Vergleich zu allen anderen Institutionen. Dabei sind jedoch mehrere Aspekte zu beachten, die ein vorschnelles Urteil verbieten. Erstens ist der große Anteil derjenigen auffällig, der bei allen Institutionen mit „ich weiß nicht“ antwortet – im Fall der Orthodoxen Kirche ist dieser Anteil mit 20 Prozent besonders hoch. Zweitens bedeuten die insgesamt 40 Prozent volles bzw. gemäßigtes Vertrauen im Vergleich zu bisherigen Werten aus Umfragen, die in den letzten Jahren immer zwischen 60 und 65 Prozent schwankten, einen massiven Vertrauensverlust von 25 Prozent. Drittens ist auch das interne Vertrauen der orthodoxen Befragten zu ihrer eigenen Kirche nicht höher als 40 Prozent. Wenn man die Daten der von Natallia Vasilevich dokumentierten innerkirchlichen Umfrage mit diesen allgemeinen Zahlen zusammenliest, zeigt sich die große Verunsicherung angesichts des ambivalenten Verhaltens der Kirchenleitung im Kontext der Proteste und eine innere Fragmentierung der Kirche.
Für das dennoch vergleichsweise große Vertrauen können zwei paradoxe Gründe vermutet werden. Zum einen darf nicht übersehen werden, dass ein großer Teil der Befragten nicht an den Protesten teilgenommen hat (ca. 75 Prozent) und die Proteste nicht unterstützt (ca. 30 Prozent) – für diese Menschen können sowohl die betont neutrale Haltung der Kirchenleitung als auch ein eher abstraktes Verständnis von Kirche durchaus Gründe für Vertrauen in der allgemein polarisierten gesellschaftlichen Atmosphäre sein. Andererseits kann das sehr konkrete Erleben einer bestimmten Gemeinde oder besonders charismatischer Priester das Bild der Kirche entscheidender prägen als die Kirchenleitung – dort, wo Priester und Gemeinden eine große Solidarität mit den Sorgen der Menschen gezeigt haben, fördert dies das Vertrauen in die Kirche.
Neben dem Vertrauen der Befragten in die Kirche ist die Frage, welche öffentliche Rolle die Menschen von der Kirche erwarten, ein weiteres wichtiges Element zum Verständnis der gesellschaftlichen Position der Kirche. Die meisten Befragten sehen die Sorge um die spirituellen Bedürfnisse der Gläubigen, die Bewahrung der öffentlichen Moral und Wohltätigkeit als wichtigste Aufgaben der Kirche im öffentlichen Leben. Eine Einmischung in Fragen der nationalen Harmonie sehen nur wenige als Aufgabe der Kirche, und es sind auch nur wenige, die eine Anteilnahme der Kirchen am öffentlichen Leben gänzlich ausschließen möchten. Auffällig hoch ist die Erwartung, die Kirchen sollen Anwälte der Menschenrechte sein. Diese Verteilung spiegelt sich auch bei den gläubigen Befragten wider, was vor allem mit Bezug auf die Anerkennung der Menschenrechte als Aufgabe der Kirchen und auch in Hinblick auf eine schwach ausgebildete nationale Agenda der Gläubigen bemerkenswert ist.
Politische Mobilisierung
Soziale Medien und internationale Beobachtung haben den religiösen Aspekt der Proteste 2020 besonders sichtbar werden lassen. Während die Reaktion der Kirchen in früheren Protesten hauptsächlich anhand der offiziellen Stellungnahmen der Kirchenleitungen analysiert wurde, haben soziale Medien im Sommer und Herbst 2020 sowohl die Proteste und die staatliche Gewalt insgesamt, aber auch die kirchlichen Aktivitäten schnell und weithin bekannt gemacht und internationale Solidarität mobilisiert.
Grundsätzlich zeigen die erhobenen Daten, dass sich das politische Engagement und die Haltungen der orthodoxen und katholischen Befragten nicht wesentlich von der Gesamtgesellschaft unterscheidet. Die Wahlen 2020 haben bei mehr als der Hälfte der Gläubigen zu einem erhöhten politischen Interesse geführt. An den Protesten nach den gefälschten Wahlen 2020 beteiligten sich 11 Prozent der orthodoxen und 21 Prozent der katholischen Befragten (14 Prozent der Gesamtbevölkerung). Mit dem Umgang der Regierung mit der Covid-19-Pandemie, der von vielen als Auslöser größerer Unzufriedenheit mit dem Regime gewertet wird, sind ebenso wie bei den gesamten Befragten ein Drittel der Gläubigen einverstanden, mehr als 40 Prozent hielten die Entscheidung gegen einschränkende Maßnahmen aber für falsch.
Bei der Entscheidung, sich am Protest zu beteiligen, spielten für orthodoxe und katholische Befragte religiöse Faktoren – also etwa ein Verbot oder ein besonderer religiöser Beweggrund – keine Rolle. Bei den Begründungen, warum man nicht an Protesten teilgenommen hat, sind vor allem das fehlende Vertrauen in den Erfolg von Protest und in die aufrichtigen Motive der Protestierenden bemerkenswert. Auffällig ist außerdem auch hier der große Anteil an Personen, die keine Antwort auf die Frage geben wollten. Zur Teilnahme am Protest motivierten hingegen das Gefühl, anders keine Stimme im politischen Prozess des Landes zu haben, und die Nachrichten über das Ausmaß der Gewalt. Dieser Befund lenkt die Aufmerksamkeit auch auf die Mediennutzung, die unter Katholik*innen und Orthodoxen die große Bedeutung der sozialen Netzwerke und ein großes Misstrauen gegenüber staatlichen Medien dokumentiert.
Auch bei den Formen des Protests decken sich die Angaben der gläubigen Befragten mit denen der gesamten Befragten. Im Vordergrund stehen dabei Solidaritäts-Menschenketten und die persönliche Unterstützung von Bekannten, Nachbarn und Familienmitgliedern. Die Teilnahme an öffentlichen Gebeten fällt dagegen äußert gering aus. Interessanterweise finden sich unter den freien Antworten nach möglichen weiteren Solidaritätsaktionen einige wenige Angaben zur Teilnahme an Aktivitäten zur Unterstützung Lukaschenkas, die alle von orthodoxen Personen ergänzt wurden. Diese statistisch schwer bewertbare Beobachtung deckt sich mit Daten zur Regimekritik bzw. Regimeunterstützung – diese deuten darauf hin, dass tendenziell mehr von Lukaschenkas Unterstützer*innen orthodox sind, während Protestant*innen und Katholik*innen eher regimekritisch eingestellt sind.
Ausblick
Insgesamt zeigen die Umfragedaten einige aufschlussreiche Tendenzen für die Bedeutung der Mehrheitskirchen in Belarus. Offensichtlich haben kirchliche Autoritäten trotz der großen Identifikation mit der Orthodoxen Kirche und dem verhältnismäßig großen Vertrauen der Befragten keine praktische Relevanz für das gesellschaftliche bzw. politische Engagement der Menschen. Die Identifikation mit der Orthodoxie erscheint damit einmal mehr als kultureller Marker, auf den sich die kirchliche Hierarchie jedoch weder in moralischen Fragen noch in gesellschaftspolitischer Hinsicht stützen kann, und der im Alltagsleben der Menschen keinen prinzipiellen Unterschied bewirkt.
Mit der Gesamtbevölkerung teilen die Gläubigen eine große Verunsicherung bezüglich des institutionellen und interpersonellen Vertrauens und bezüglich der Einschätzung politischer Prozesse und Perspektiven. Der Anteil derjenigen, die Fragen zu diesen Themen mit „ich weiß nicht“ beantworten, ist auffällig hoch – etwa bei der Frage nach der Bewertung der Covid-19-Maßnahmen, oder bei der Bedeutung der Demokratie, wo knapp die Hälfte der Orthodoxen (und ca. 40 Prozent aller Befragten) keine Antwort geben können oder wollen bzw. die Existenz einer demokratischen oder nicht-demokratischen Politik für sich persönlich als nicht relevant empfinden. Die Entfremdung zwischen politischen und kirchlichen Eliten und den Befragten und das leicht gewachsene interpersonelle Vertrauen (ca. 20 Prozent unter den orthodoxen Befragten, 10 Prozent bei allen Befragten) könnte jedoch in der Zukunft eine Stärkung der Solidarität und des Engagements an der Basis fördern.
Weitere Analysen zur Gesamtumfrage:
Felix Krawatzek: Wie vereint ist Belarus gegen das Regime? ZOiS Spotlight 6/202117.02.2021, https://www.zois-berlin.de/publikationen/zois-spotlight/wie-vereint-ist-belarus-gegen-das-regime/
Gwendolyn Sasse, Felix Krawatzek: Belarus protests: why people have been taking to the streets – new data. The Conversation, 4.2.2021, https://theconversation.com/belarus-protests-why-people-have-been-taking-to-the-streets-new-data-154494.
Gwendolyn Sasse: The Political Awakening of Belarusian Society. Carnegie Europe, 11.2.2021, https://carnegieeurope.eu/strategiceurope/83861.
Die Umfrage wurde ermöglicht durch eine Förderung des Auswärtigen Amtes. Die Auswertung geben die Einschätzungen der Autorin und weitere Analysen des ZOiS wieder.
Regina Elsner, Dr. theol., Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Zentrum für Osteuropa- und internationale Studien (ZOiS), Berlin.