«Die Mächtigen verletzen die Gesetze Gottes»
In Belarus wird weiter gegen Alexander Lukaschenko demonstriert. Wie verhalten sich die Kirchen in dem Konflikt? Über geifernde Nonnen, besonnene Priester und eine sehr machtbewusste klerikale Elite.
Am Freitag wurde der orthodoxe Priester Vladimir Drobyshevsky aus dem belarussischen Gomel zu zehn Tagen Haft verurteilt. Der Grund? Er hatte am Rande einer Anti-Regierungs-Demonstration ein Plakat hochgehalten, darauf ein Porträt Isaac Newtons mit der Formel des Wechselwirkungsgesetzes: «Jede Aktion erzeugt eine gleich große Reaktion.»
Das reichte, um den sechsfachen Vater hinter Gitter zu bringen. Doch nicht nur die Staatsmacht ging gegen den Geistlichen vor: Bereits Anfang August hatte die Kirchenleitung Drobyshevsky aus allen Ämtern entlassen.
Die russisch-orthodoxe Kirche in Belarus ist traditionell ebenso regierungsfreundlich wie die große Schwester im Osten, der sie untersteht. Zwar gilt offiziell eine Nichteinmischungspolitik — immer wieder jedoch lassen sich Geistliche von der Regierung Lukaschenko für dessen Agenda instrumentalisieren.
So erklärte die Leiterin eines Frauenklosters, Äbtissin Gawrila, auf einer Propagandaveranstaltung der Regierung in Minsk, die Demonstranten seien Sektierer, «eine rasende, teuflisch brüllende Herde», für die man beten müsse. «Ihr Wahnsinnigen, haltet ein!», rief sie in die applaudierende Menge.
Die Verflechtung von Staat und orthodoxem Führungspersonal ist nicht nur ideologischer und machtpolitischer Art: «Die einfachen Priester haben keine materiellen Interessen, es ist der höhere Klerus, der über weitreichende Verbindungen zu Regierung und Wirtschaft verfügt und nicht vorhat, Macht abzugeben», sagt der Priester Uładzimiér Kaminski aus Lida, einer Stadt nahe der litauischen Grenze. «Diese Leute verstehen sich als Teil der Elite. Sie fühlen sich unantastbar.»
Gleichzeitig gibt es einzelne Geistliche, die sich seit Beginn der Proteste nach den manipulierten Wahlen am 9. August auf die Seite der friedlich Demonstrierenden stellen.
So wie Alexander Shramko, einst Priester in der Kirche des Heiligen Erzengels Michael in Minsk. Weil er den Moskauer Patriarchen Kirill kritisierte, wurde ihm 2017 ein Schreibverbot erteilt. Ein Jahr später wurde er zusätzlich aus allen Ämtern entfernt.
«Die Kirche geht davon aus, dass sie über der Politik steht», sagt Shramko. Doch jede Zurückhaltung sei angesichts der hoch angespannten Situation in Belarus schädlich, «denn die Mächtigen verletzen die Gesetze Gottes». Wenn die Regierung Wahlbetrug betreibe und gewaltsam gegen ihre Bürger vorgehe, «muss die Kirche aufstehen, Stellung beziehen und einen Dialog einfordern».
Davon ist sie allerdings weit entfernt. Die Mehrheit der orthodoxen Führungspersönlichkeiten hüllt sich angesichts der andauernden Proteste in Schweigen. Wer sich im Internet oder öffentlich kritisch äußert, kommt schnell in Kontakt mit den Sicherheitsbehörden, wird überwacht oder direkt angegangen. Ein Priester berichtet dem SPIEGEL, er sei gedrängt worden, missliebige Posts auf Facebook zu löschen. Von Regierungsbeamten — aber auch von seinem direkten kirchlichen Vorgesetzten.
Am 22. August stellte Autokrat Alexander Lukaschenko bei einer Massenveranstaltung in Grodno klar, Geistliche aller Konfessionen hätten sich aus der Politik herauszuhalten — eine unmissverständliche Warnung, wie sich herausstellen sollte.
Wenige Tage später trat der belarussische Metropolit Pawel Ponomarjow überraschend zurück. Er hatte Gewalt- und Folteropfer im Krankenhaus besuchte, was ihm offenbar als Solidaritätsbekundung ausgelegt wurde. Der gehasste Priester Shramko ist sicher, dass Moskau diese Entscheidung getroffen habe, «um Lukaschenko den Rücken freizuhalten».
Tatsächlich gebärdet sich der neu installierte Metropolit Benjamin bisher handzahm — er formuliert vage und lässt sich im laufenden Konflikt nicht auf eine Position festnageln.
«Komfortabel eingerichtet im autokratischen Regime»
Aber muss Lukaschenko, der sich am Dienstag überraschend als Staatschef vereidigen ließ, überhaupt Angst vor einem Überlaufen des Klerus zu den Reformern haben? Wohl kaum. Rund 48 Prozent der Belarussen sind offiziellen Angaben zufolge orthodoxen Glaubens, aber bei Weitem nicht alle gehen regelmäßig in die Kirche. «Die belarussische Gesellschaft ist säkular», sagt Shramko. «Viele Demonstranten sind Atheisten, der Einfluss der Kirchen auf die Massen ist überschaubar.»
Dennoch genieße die orthodoxe Kirche in der Bevölkerung seit Jahren unverändert das größte Vertrauen von allen gesellschaftlichen Akteuren, sagt Natallia Vasilevich, Leiterin des Vereins «Ökumenisches Zentrum» und der Gruppe «Christliche Vision» beim oppositionellen Koordinationsrat.
Das könne sich ändern, sollte die offizielle Kirchenführung darauf bestehen, ihre Pseudoneutralität aufrechtzuerhalten. «Sie hat sich komfortabel eingerichtet im autokratischen Regime, das ihr symbolische, aber auch handfeste ökonomische Privilegien eingeräumt hat», so Vasilevich. Aber niemand könne sich derzeit den rasanten Veränderungen in Belarus entziehen. «Die Kirche kann nicht mehr schweigen oder sich verstecken. Sie muss reagieren.»
Auch Katholiken im Visier der Regierung
Der sich gern frömmelnd gebende Autokrat Lukaschenko setzt nach altbewährter Art auf totale Kontrolle. Auch die katholische Kirche – mit einer Million Gläubigen die zweitgrößte Konfession im Land — ist schon unter Beschuss geraten. Der Vorsitzende der Bischofskonferenz, Erzbischof Tadeusz Kondrusiewicz, durfte nach einem Besuch in Polen nicht wieder nach Belarus einreisen.
Der katholische Weihbischof Juri Kasabuzki geriet ins Visier der Behörden, nachdem er von der Kanzel explizit Gewalt und Festnahmen gerügt und das Regime der Wahlfälschung bezichtigt hatte. In einem Interview mit «Nascha Niwa» erklärte er, seine Kirche solle unter Druck gesetzt werden.
Rom reagierte — diplomatisch. Papst Franziskus rief zu Dialog und Gewaltverzicht in Belarus auf und entsandte seinen Außenminister, Erzbischof Paul Gallagher, nach Minsk. Offene Kritik formulierte keiner der beiden. Katholische und orthodoxe Kirche machen derzeit eine ähnlich schlechte Figur wie die Europäische Union, die es wegen des zyprischen Vetos noch immer nicht geschafft hat, Sanktionen gegen den Autokraten Lukaschenko zu verhängen.
«Es ist unsere Pflicht, Gewalt anzuprangern», sagt Georgi Roy, Priester in der orthodoxen Kathedrale in Grodno im Westen des Landes. Eben hier, unweit der Grenze zu Polen und Litauen, will Lukaschenko die Grenzen schließen lassen, während die Armee in Alarmbereitschaft ist.
In Grodno läuteten die Kirchenglocken, als es unlängst zu Ausschreitungen gegen Demonstranten kam — als Mahnung an die Sicherheitskräfte, von der Gewalt abzulassen. Georgi Roy ging nicht auf die Meetings, aber er besuchte das örtliche Gefängnis, verteilte Wasser und Früchte, versuchte, die Angehörigen der Inhaftierten zu trösten und aufzubauen. «Die Gewalt gegen das eigene Volk wird als kollektives Trauma erlebt, das verbindet», sagt Roy. «Die Belarussen sind friedliebende Menschen, die mit allem klarkommen — aber nicht mit dieser humanitären Katastrophe. Das ist unser größter Schmerz.»
Was die Revolution braucht
Lukaschenkos Sicherheitsapparat hat bisher ganze Arbeit geleistet: Die wichtigsten Reformer sind entweder im Exil oder im Gefängnis, Demonstranten müssen jede Minute damit rechnen, inhaftiert zu werden. Viele Regimegegner fürchten Entlassung und Arbeitslosigkeit, den Entzug ihrer Lebensgrundlage.
«Die Opposition in Belarus hat keine Struktur», bemängelt der ehemalige Anführer der polnischen Gewerkschaftsbewegung Solidarność, Lech Walesa, in der «taz». Eine Revolution brauche «vertrauenswürdige Fachleute an wichtigen Schaltstellen im Staat, ein realistisches Programm und Durchhaltevermögen».
Dass Revolutionen auch Geld kosten, weiß Walesa nur zu gut. Im Falle von Solidarność kam die Unterstützung unter anderem aus dem Vatikan, wo der aus Polen stammende Papst Johannes Paul II. mit Millionenhilfen dem Kommunismus in seinem Heimatland den Garaus machen wollte. Die Investition hat sich bekanntermaßen gelohnt.