Bloggerin: So stehen die Kirchen im Land zu den Protesten in Belarus
Viele Gläubige beteiligen sich an den Protesten in Belarus, doch die meisten orthodoxen Bischöfe schweigen. Im Interview erläutert die Bloggerin Natallia Vasilevich, wie sie die Rolle der katholischen Kirche bewertet – und ob sich die Kirchen überhaupt an einem demokratischen Wandel beteiligen können.
Es gibt Bischöfe und Priester, die die Demonstrationen in Belarus gegen die autoritäre Herrschaft von Präsident Alexander Lukaschenko unterstützen – überkonfessionell. Doch vor allem orthodoxe Bischöfe lehnen die Proteste ab und raten den Gläubigen ab, daran teilzunehmen. Die Politikwissenschaftlerin, Juristin und orthodoxe Theologin Natallia Vasilevich gibt einen ein Blick in die aktuelle Lage.
Frage: In Belarus scheint in diesen Tagen jeder auf den Beinen zu sein, um auf den Straßen gegen das Regime von Präsident Alexander Lukaschenko zu protestieren. Die christlichen Kirchen sind die größten Nichtregierungsorganisationen im Land. Protestieren sie auch, Frau Vasilevich?
Vasilevich: Ja, es gibt Protestaktionen, die von Gläubigen initiiert werden: Auf öffentlichen Friedensgebeten wird angesprochen, dass das Lukaschenko-Regime die Wahlen gefälscht hat. An diesen Protestaktionen nehmen auch Priester teil. Besonders sichtbar sind die orthodoxen und die katholischen Geistlichen, weil sie wegen der Ikonen, Fahnen und ihres Habits optisch aus der Menge herausstechen. Bereits vor der Wahl hatte eine Gruppe von katholischen Jugendlichen eine Kampagne unter dem Motto «Ein Katholik fälscht nicht» gestartet, um die Wahlhelfer zu ermutigen, die Ergebnisse korrekt zu dokumentieren.
Frage: Interessanter in einem autoritär regierten Staat ist jedoch, wie sich die oberen Hierarchieebenen der Kirche äußern. Ist auch hier Kritik zu hören?
Vasilevich: Hier wird die Frage schon schwieriger. Tatsächlich sprechen einige Bischöfe ihre Kritik deutlich an. So hat etwa der orthodoxe Bischof Artemy von Grodno von «unverhältnismäßiger Grausamkeit vonseiten der Staatsgewalt» gesprochen und die Beamten aufgerufen, die Gewalt gegen das eigene Volk zu stoppen und ihre «Lügen» nicht mehr zu decken. Noch deutlicher wurde Yury Kasabutski, katholischer Weihbischof von Minsk und Mogiljow, der am 5. September in der Roten Kirche in Minsk das Regime der Wahlfälschung bezichtigt und die Reaktionen des Regimes auf die Proteste als «feige» und «grausam» bezeichnet hat. Und das ist durchaus dort angekommen, wo es ankommen sollte. Bereits Ende August hat sich Alexander Lukaschenko direkt an die Kirchen gewandt und gegenüber den Bischöfen ganz klar gesagt: In Kirchen wird gebetet, nicht Politik gemacht. Lukaschenko nimmt diesen Protest der Kirchen als relevante Bedrohung wahr.
Frage: Wenn auch die Bischöfe protestieren, wo sehen Sie dann das «Aber»?
Vasilevich: Das waren die Stimmen einzelner Bischöfe. Weder die orthodoxe noch die katholische Kirche haben sich als Institutionen bislang geschlossen gegen die die Wahlfälschungen und die Gewalt gegen friedliche Demonstranten gestellt. Die Synode der belarussisch-orthodoxen Kirche (BOK) etwa hat sich mehrfach von friedlichen Aktionen ihrer Priester und Gläubigen distanziert und dabei immer betont, dass diese sich nicht im Namen der Kirche geäußert hätten.
Frage: Dennoch musste Metropolit Pawel, immerhin seit 2014 Leiter des belarussischen Exarchats, vor zwei Wochen das Land verlassen. Es heißt, er sei darüber gestürzt, dass er sich vor Gläubigen für seine Gratulation an Lukaschenko entschuldigt hat.
Vasilevich: Ja, das stimmt. Aber gerade an diesem Beispiel wird deutlich, was ich meine: Das war keine bewusste Kritik der Kirchenleitung an all dem, was gerade in Belarus passiert. Denn offiziell hat der Metropolit Lukaschenko zur Wahl gratuliert und ihn damit als legitimen Präsidenten anerkannt. Vielmehr ist Pawel quasi ein Nebensatz zum Verhängnis geworden. Bei einem gemeinsamen Gebet hat eine orthodoxe Christin ihm diese Gratulation als unverantwortlich vorgeworfen. Darauf hat sich Pawel ihr gegenüber dafür entschuldigt. Vielleicht war er von dem Moment überwältigt, ich weiß es nicht. Eine offizielle Stellungnahme war dies jedenfalls nicht. Nur, weil diese Szene sofort über die Sozialen Netzwerke viral weitergeleitet wurde und auch auf Radio Free Liberty lief, war sie in der Welt. Die Führungsebene der belarussisch-orthodoxen Kirche hat noch versucht, das wieder einzufangen und ist zurückgerudert, aber das ist nicht mehr gelungen.
Frage: Und deswegen ist Pawel abgesetzt worden?
Vasilevich: Offiziell war dies keine Absetzung, sondern eine Versetzung auf eigenen Wunsch. Ich vermute stark, dass Metropolit Pawel in Moskau auf der Synode der russische-orthodoxen Kirche, zu der auch das Exarchat Belarus gehört, Ende August dazu genötigt worden ist, Belarus zu verlassen. Er ist nun seitdem Bischof in der Diözese Kuban in Russland. Offiziell, weil er die Verantwortung für die Leitung des Exarchats nicht mehr übernehmen könne. Während seiner letzten Liturgie in der Minsker Kathedrale hat er jedoch offen gesagt, dass sein Weggang aus Belarus eine rein politische und nicht seine Entscheidung gewesen sei.
Frage: Wie ist sein Nachfolger einzuschätzen?
Vasilevich: Metropolit Venjamin hat immer schon die Position vertreten, dass sich die Kirche nicht in politische Angelegenheiten einzumischen habe. In seinem Fokus liegen spirituelle Fragen, nicht die Menschenrechte. Allerdings ist sein Handeln meiner Meinung nach alles andere als unpolitisch. So hat er es den Laien, die in der Kirchenverwaltung der BOK arbeiten, verboten, sich an der Kampagne «Orthodoxe fälschen nicht» zu beteiligen und diejenigen rausgeworfen, die sich dem widersetzt haben. Das bewerte ich schon nicht mehr als unpolitisch, das ist eine Unterstützung des Regimes.
Frage: Kann sich die BOK in dieser Situation aus politischen Fragen raushalten?
Vasilevich: Das wird sich zeigen. Bislang hat sich Alexander Lukaschenko oft mit Bischöfen und dem Exarchen gezeigt, um sich als gläubigen orthodoxen, also «richtigen» Belarussen, zu inszenieren. Die Kirchenleitung der BOK hat ihm und seinem Regime den Segen erteilt, seine Legitimität gestärkt und damit nach einem hier weit verbreiteten Verständnis ihre Aufgaben als Staatskirche korrekt ausgeführt: Unterstützung der Regierung — zum Wohle des Volkes. Als Dank hat die belarussische Orthodoxie im Vergleich zu den anderen Glaubensgemeinschaften entsprechende Privilegien genossen: Zum einen finanzielle und, viel wichtiger, eine enge institutionelle Zusammenarbeit, was die BOK hilft, sich als erste Kirche im Staat von allen anderen abzusetzen.
Frage: Wie lange kann die BOK ignorieren, dass das Lukaschenko-Regime immer weiter an Legitimität verliert?
Vasilevich: Bislang kann ich nicht beobachten, dass die oberste Hierarchieebene umsteuert. Die Position als Stütze des Staates, egal wie, ist sozusagen in die DNA der BOK übergegangen: Da musste das Regime eigentlich nie offen in Aktion treten – die Prozesse der Selbstdisziplinierung sind kirchenintern eingespielt und haben schnell gegriffen. Ich nehme auch weiterhin an, dass sich die oberste Hierarchieebene nicht gegen das Regime stellen wird. Neben Venjamin als geistigem Oberhaupt wird künftig der Minsker Priester Fjodor Povny die Geschäfte führen. Es ist bekannt, dass er seit jeher engen Kontakt zu Alexander Lukaschenko unterhält und dessen Kurs unterstützt. Es gibt unter den Gläubigen auch durchaus offene Anhänger Lukaschenkos. So organisiert ein Gruppe Geistlicher aus dem Sankt-Elisabeth-Kloster in Minsk kleinere Demonstrationen für den Präsidenten.
Frage: Damit diskreditiert sich die BOK nicht bei ihren Gläubigen?
Vasilevich: Es gibt ein interessantes Phänomen. Orthodoxe Gläubige interessieren sich in Foren und Glaubensgruppen gerade verstärkt dafür, wie sie katholisch werden können. Und ich habe den Eindruck, es geht ihnen dabei nicht um theologische Fragen wie um die des «Filioque» In Belarus gibt es dazu keine offiziellen Umfragen, aber tatsächlich hatte die römisch-katholische Kirche zuletzt recht hohe Sympathiewerte. Religiöse Menschen, denen es auch um Menschenrechte und Demokratie geht, nehmen augenscheinlich an, dass die katholische Kirche in Belarus dafür der bessere Anwalt ist. Einfach, weil sie historisch hier nicht die Rolle als Stütze des Staates hat, sondern als «fremde», also als «polnische» oder allgemein als «westliche» Kirche vom Regime verunglimpft wurde.
Frage: Und, ist da was dran? Regt sich unter den Bischöfen der zweitgrößten Glaubensgemeinschaft in Belarus mehr Widerstand?
Vasilevich: Schon eher, aber auch hier bleibt die Position der Kirchenführung mehrdeutig. Tadeusz Kondrusiewicz, der Leiter der belarussischen Bischofskonferenz, fährt einen Schlingerkurs. Kurz nach der Wahl, als das Internet blockiert war und es kaum Informationen über die Ereignisse des Wahlabends und die Fälschung gab, verurteilte er die Gewalt auf den Straßen, ohne jedoch einen Schuldigen zu benennen. So wirkten seine Aussagen, als gebe er beiden Seiten, den staatlichen Behörden wie auch den Demonstranten, gleichermaßen die Schuld.
Frage: Warum wählt auch Kondrusiewicz nicht offenere Worte?
Vasilevich: Ich denke, ihm ging es zunächst vor allem um das Problem der Gewalt auf den Straßen, weniger darum, ob die Wahlen gefälscht sind oder nicht. In Belarus gibt es im Vergleich zu westlichen Demokratien einen wichtigen Denkunterschied: Wer auf die Straße geht, so galt es zumindest bislang, der weiß, was ihn erwartet. Und der kalkuliert Gewalt als Reaktion auf seinen Protest ein. Kurz: Wer eine Barrikade baut oder den Befehlen der Polizei, so illegitim diese auch sein mögen, nicht Folge leistet, handelt nach dieser Denkart bereits gewalttätig. Eine Demonstration ist demnach kein friedlicher Protest mehr. Kondrusiewicz änderte seine Position, als offenbar wurde, wie brutal das Regime vorgeht. Hier distanzierte er sich ganz klar auf der Internetseite der katholischen Kirche in Belarus und sagt, dass die Menschen das Recht hätten, die Wahrheit zu erfahren und friedlich zu demonstrieren. Die Regierung müsse einen konstruktiven Dialog anbieten und solle alle im Rahmen der Demonstrationen Inhaftierten wieder freilassen.
Frage: Welche Folgen hatte diese Kritik?
Vasilevich: Sehr skurrile. Aktuell kann Kondrusiewicz nicht mehr nach Belarus einreisen. Er ist nach einer Reise nach Polen an der polnisch-belarussischen Grenze gestrandet. Es ist mir nicht bekannt, aus welchen Gründen ihm als Bürger von Belarus die Einreise in sein Heimatland verwehrt werden kann, aber dies ist aktuell der Fall. Der Grund, der ihm dafür erst vor kurzem nachträglich vom Innenministerium mitgeteilt worden ist, ist, dass sein Pass «ungültig» sei. Was genau ungültig ist, teilt ihm die zuständige Behörde nicht mit. Auch nicht, wie man dieses Problem beheben kann. Präsident Alexander Lukaschenko hat im Fernsehen so getan, als habe er auch keine Informationen zum Vorgang. Stattdessen war er sich jedoch nicht zu schade, zu mutmaßen, Kondrusiewicz habe womöglich irgendwelche «Instruktionen» in Warschau erhalten. Dies ist eine gängige Art der Diffamierung hier, jemanden als Agenten des Westens zu verunglimpfen. Ob Kondrusiewicz Instruktionen erhalten hat, von wem, warum und wofür, ist in dieser Logik völlig unerheblich. Faktisch wird damit das Oberhaupt der katholischen Kirche von Belarus außer Landes gehalten.
Frage: Der katholische Oberhirte eines Landes wird aus fadenscheinigen Gründen an der Einreise gehindert – was sagt der Vatikan dazu?
Vasilevich: Tatsächlich ist bis Montag eine mehrköpfige Delegation des Vatikan für mehrere Tage in Belarus gewesen. Offiziell ging es dabei nicht um Kondrusiewiecz, erst nach der Abreise aus Belarus sagte Erzbischof Paul Gallagher, Verhandlungsführer der Delegation, dass «der Bischof wieder in seine Diözese zurückkehren dürfen sollte, um seine seelsorgerischen Aufgaben erfüllen zu können». Gallagher äußerte sich weder zu den Wahlfälschungen noch zur Polizeigewalt gegenüber den friedlichen Protesten. Er sagte nur, dass die «Kirche immer zu Frieden, Harmonie und Dialog» anregen sollte. Aktuell ist nicht bekannt, ob die Delegation etwas für Kondrusiewiecz erreichen konnte, bislang durfte er nicht einreisen.
Für die Regierung Lukaschenko war dies sicher ein willkommener Besuch. Denn das zeigt doch, dass es dem Regime immer noch gelingt, seine Kontakte zu westlichen Staaten aufrecht zu erhalten. Man will den Vatikan für die Einflussnahme auf die westliche Staatenwelt nutzen. Was den Vatikan seinerseits bewogen hat, ausgerechnet jetzt diese Delegation zu schicken, bleibt für mich unklar. Mein Eindruck ist, dass dieser Besuch unter den Gläubigen in Belarus mit einiger Ratlosigkeit aufgenommen wurde: Zum einen, weil das für sie drängende Problem um Kondrusiewicz nicht gelöst wurde, zum anderen, weil jeder internationale Besuch vom Regime genutzt wird, um seine Legitimität zu stabilisieren.
Frage: Haben die Kirchen in Belarus unter diesen Bedingungen überhaupt das Potenzial, einen demokratischen Wandel mitzugestalten?
Vasilevich: Was die Kirchenleitung beider Kirchen angeht, bin ich mir nicht sicher. Andererseits: Es zeigt sich, dass es unter den normalen Gläubigen ein großes Potenzial an Menschen gibt, die willens und fähig sind, einen Übergang zu gestalten. Niemand hätte vor diesen Wahlen erwartet, dass die Menschen so stark für den Wandel kämpfen. Ich sehe, dass sich auf einmal ganze viele Menschen mit Themen wie Menschenrechten und Demokratie befassen, versuchen, einen Überblick in juristischen Grundsatzfragen zu bekommen. Somit bin ich, wenn auch sehr verhalten, optimistisch, dass die Kirchen, auch die BOK, irgendwann nicht anders können, als diesen Wandel, wenn er denn kommt, zu unterstützen.
Von Annegret Jacobs, katholisch.de