Alena Kharko: «Gewalt ist ein Zeichen des Leidens»
Am 19. September 2020 fand in der Kirche «Entschlafen der Gottesgebärerin» in Köln das ökumenische Gebet für Frieden, Freiheit und Gerechtigkeit in Belarus statt. Eine der vier Reden hielt Dr. theol. Alena Kharko (katholische Kirche, Eichstätt) zu Lk 13,6-9.
Und er erzählte ihnen dieses Gleichnis: Ein Mann hatte in seinem Weinberg einen Feigenbaum gepflanzt; und als er kam und nachsah, ob er Früchte trug, fand er keine.
Da sagte er zu seinem Winzer: Siehe, jetzt komme ich schon drei Jahre und sehe nach, ob dieser Feigenbaum Früchte trägt, und finde nichts. Hau ihn um! Was soll er weiter dem Boden seine Kraft nehmen?
Der Winzer erwiderte: Herr, lass ihn dieses Jahr noch stehen; ich will den Boden um ihn herum aufgraben und düngen.
Vielleicht trägt er in Zukunft Früchte; wenn nicht, dann lass ihn umhauen!
Bereits einige Wochen lang stelle ich mir die Frage: „Wie werden wir weiter zusammenleben?“ Im Laufe der letzten Monate, August und September, erfuhr Belarus eine zuvor dem Land unbekannte Art der Gewalt. Eine Gewalt, die ein Teil der Bevölkerung erleidet, ein anderer ausübt. Diese Gewalt zersplitterte unsere Gesellschaft und schuf eine Kluft zwischen den Belarussen, die sonst durch ihre Toleranz, Geduld und Milde (wohl)bekannt waren.
Dieses Phänomen rief ein Satz hervor, der bereits anderthalb Monate lang ununterbrochen ausgesprochen wird: „Es wird nicht vergessen, es wird nicht vergeben!“ Über diese Äußerung und in der ersten Linie über das „nicht vergeben“ sprach der katholische Bischof Jurii Kosobuzkii in seiner Predigt, wobei er sich bemühte, alle Gefahren dieser Aussage für Gläubige aufzuzeigen und auf die Notwendigkeit der Vergebung hinzuweisen. Nun aber wie?
Vermutlich beinhaltet die negative Partikel „nicht“ noch enorm viel Kraft, um der Gewalt entgegenzustehen. Es mag noch zu früh sein, auf diese Partikel zu verzichten. Man schöpft immer noch Energie daraus, um eigene Würde wiederaufzubauen und um sie zu bewahren.
Nun bin ich aber der Meinung, dass dieser Satz „es wird nicht vergessen“ die Lage noch mehr erschwert, die Kluft wird somit tiefer, die Zerrissenheit in der Gesellschaft wird noch schärfer. Die Phrase wirkt wie eine Seuche, wie eine Erkrankung, die Geist und Herz durchdringt, die Leib und Verstand verseucht und entstellt. Sie bekräftigt den Zorn und verschärft die Kränkung, die nach der Genugtuung verlangen.
Wie werden wir aber weiter zusammenleben können?
Gewalt ist ein Zeichen des Leidens. Spricht man von einem „Leiden“ oder einer „Erkrankung“, kommt sofort die Auffassung der „Sünde“ in der orthodoxen Theologie ins Spiel. Hier wird eine „Sünde“ nicht als ein Fehltritt oder ein geschehenes Vergehen betrachtet, der oder das nach einer Vollbringung gewisser Rituale verziehen, losgesprochen oder entsühnt werden kann. Die orthodoxe Auffassung neigt eher dazu, eine „Sünde“ als eine „Erkrankung“ oder ein „Seelenleid“ auszulegen, die oder das sich nach Genesung sehnt.
Wie soll eine weitere Verbreitung dieser Erkrankung verhindert werden?
Mehrere Jahre habe ich der Forschung und Systematisierung des theologischen Gedankenguts des russischen orthodoxen Theologen Aleksandr Men‘ gewidmet. Vor ein paar Tagen, und zwar am 9. September, gedachte man des Tages, an dem der orthodoxe Erzpriester tragisch aus seinem Leben gerissen wurde. In seiner Theologie unternahm Aleksandr Men‘ einen Versuch die orthodoxe Lehre über die Erlösung systematisch darzulegen. Dabei fasste er die Erlösung als eine Heilung auf. In der Heiligen Schrift, meint er, herrschen Symbole einer eher organischen bzw. biologischen Ordnung vor, „[…] wobei das Geheimnis der Erlösung als ein Prozess der Läuterung wahrgenommen wird, als ein Prozess des Einlebens, der Einverleibung, der Einpflanzung des Menschen zu einem anderen Leben, zum Göttlichen. In gewisser Weise erinnert das an die Arbeit eines Gärtners, der die gesunden Pflanzen zu den erkrankten einverleibt, um somit die Krankheit zu besiegen“.[1]
Wird diese Betrachtung auf die heutigen Ereignisse in Belarus übertragen, so soll ein Teil der Bevölkerung notwendig gesund bleiben, nicht zulassen, sich vom Zorn anzustecken. Es ist erforderlich, um die Krankheit zu besiegen, um das Leiden zu heilen.
[1] Men’, Aleksandr: Beseda ob iskuplenii [Gespräch über die Erlösung], in: Men’, Aleksandr: O Christe i Cerkvi. Besedy i lekcija [Über Christus und die Kirche. Gespräche und ein Vortrag], hg. v. Adamjanc, Roza / Grigorenko, Natal’ja / Nasonova, Marina / Men’, Pavel, Moskau 2002, S. 119-133, hier: S. 122.
Foto © Axana van der Ra, Köln, 19. September, Kirche «Entschlafen der Gottesgebärerin»